Der Fachkräftemangel ist besonders in der Logistikbranche akut. Alexander Schlomberg-van Doren, Mitgründer des HR-Tech-Unternehmens Expertlead erläutert im Interview, wie die Personallücke geschlossen werden kann.

Zwei leere Bürostühle
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Logistik Watchblog: Der Fachkräftemangel ist aktuell branchenübergreifend zu spüren. Wie konnte es Ihrer Einschätzung nach überhaupt erst so weit kommen?

Alexander Schlomberg-van Doren: Die Lage ist wirklich kritisch. Laut einer aktuellen Studie hat der Fachkräftemangel auch in der gesamten Logistikbranche stark zugenommen, während die Nachfrage im IT-Bereich bereits seit Jahren hoch ist. In Deutschland sind derzeit branchenübergreifend zwei Millionen Stellen unbesetzt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Die deutsche Wirtschaft ist in den letzten zehn Jahren stark gewachsen, ebenso die hiesige StartUp-Szene. Gleichzeitig wird Deutschland zu einer der ältesten Gesellschaften in Europa, was erheblich zum Fachkräftemangel beiträgt. Diese Situation wird sich noch verschärfen, wenn noch mehr Vertreter*innen der geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen – ein Effekt, der bereits heute spürbar ist. 

Wenn wir genauer hinschauen, stellen wir außerdem fest, dass viele Menschen seit der Pandemie vermehrt ihre Jobs kündigen. In Europa steigt diese Zahl nun von Jahr zu Jahr. Das Phänomen hat sogar einen eigenen Namen: ‚Great Resignation‘ oder ‚Big Quit‘. Covid-19 hat die Menschen dazu gebracht, über ihre Vorstellungen von Arbeit nachzudenken, und vielen den Mut gegeben, einen Neuanfang zu wagen. Die Krise wirkte also als Katalysator für einen Wechsel der Prioritäten, der die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Das führt vor allem dazu, dass Unternehmen ihre bisherige Aufstellung und Werte grundsätzlich überprüfen müssen. Gerade die Logistikbranche ist diesbezüglich noch nicht weiter gekommen. Die Branche steht unter hohem Druck: Das Paketaufkommen nimmt stetig zu, die Anforderungen der Kund*innen sind gestiegen, Lieferketten zusammengebrochen und gleichzeitig herrscht überall Personalmangel. Das setzt die vorhandenen Mitarbeiter*innen natürlich enorm unter Druck.

Warum hat es auch ausgerechnet die Logistikbranche so schwer, passende Fachkräfte zu finden?

​​In der Logistik ist die Situation besonders dramatisch und die Personalfrage wird für fast alle ihr zugehörigen Unternehmen zu einem immer größeren, manchmal sogar existenzbedrohenden Problem. Die Branche ist gezwungen, Strategien neu zu bewerten und eine widerstandsfähigere Lieferkette zu schaffen, die auch in turbulenten Zeiten gut funktioniert. Mit der Einführung neuer Handelswege und digitaler Lösungen hat sich die Logistik- und Lieferkettenbranche dramatisch verändert. 

Dazu kommt, dass es in der Logistikbranche viele mittelständische Unternehmen gibt, denen inhouse das IT-Know-how fehlt. Dies hat zu einer enormen Nachfrage nach (IT-)Fachkräften geführt. Jedoch war der Logistiksektor noch nicht bereit, den Kampf um Talente gegen andere Branchen zu gewinnen. Oftmals werden Berufe in der Logistik mit niedrigen Löhnen, hohem Stress und einer wenig nachhaltigen Arbeits- und Unternehmenskultur in Verbindung gebracht, was zu einem schwer zu überwindenden Imageproblem führt. Darüber hinaus ist dieser Geschäftszweig oft nicht gut auf den aktuellen Wandel hin zu hybrider oder remote Arbeit vorbereitet, da er auf physische Standorte ausgerichtet ist. Das macht es schwieriger, Talente anzuziehen und zu halten.

Matchmaking auf Augenhöhe

Wie kann Expertlead Firmen dabei unterstützen? Erklären Sie kurz das Konzept, das dahintersteckt.

Expertlead unterstützt Unternehmen bei der Suche nach den passenden freiberuflichen oder festangestellten IT-Expert*innen. Unsere Technologie automatisiert alle Schritte des Rekrutierungsprozesses und verschafft unseren Kund*innen Zugang zu Talenten, deren Qualifikationen wir im Rahmen von Tech-Assessments durch andere IT-Expert*innen gründlich testen.

Die Suche nach IT-Talenten ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen für Unternehmen. Gleichzeitig schrecken die unbefriedigenden Erfahrungen, die IT-Fachkräfte mit Personalvermittlern und Agenturen gemacht haben, davon ab, mit diesen zu agieren. Wir haben es uns daher zur Aufgabe gemacht, den veralteten Recruiting-Prozess im Tech-Bereich grundlegend zu verändern – und somit Branchen wie der Logistik zu helfen, ihre Personallücken zu schließen.

An wen richtet sich Ihr Angebot konkret? Gibt es Einschränkungen hinsichtlich der Größe eines Unternehmens oder dergleichen?

Wir verstehen uns als HR-Tech-Unternehmen, das sich an Unternehmen aller Größen und Branchen richtet – derzeit erhalten wir besonders viele Anfragen aus den Bereichen E-Commerce, Logistik, der Industrie 4.0, dem Gesundheitswesen und Fintech. 

Unser Fokus liegt vor allem auf großen Unternehmen und Konzernen, aber wir arbeiten auch mit vielen mittelständischen Unternehmen sowie Start- bzw. Scale-ups. Unser Angebot wird vor allem von Firmen geschätzt, die sich Fehleinstellungen oder lange frei bleibende Vakanzen nicht leisten können, die schnell wachsen und einen hohen Personalbedarf haben. Viele Unternehmen sind auch noch nicht bekannt genug oder verfügen nicht über die Ressourcen und das technische Know-how, um auf eigene Faust Talente zu finden.

Nehmen wir die Logistikbranche – wie bereits erwähnt, ist sie per se erst einmal nicht für alle Kandidat*innen sofort interessant, aber wenn sie bei uns sehen, was genau die IT-Herausforderungen und -Projekte sind, sind sie oft fasziniert. Traditionelle Personaldienstleister können dieses Matchmaking oft nicht leisten, weil ihnen das nötige IT-Wissen fehlt und sie nicht wie wir auf eine gewachsene Community zurückgreifen können. Es ist einfach wichtig, die Sprache beider Seiten zu sprechen und mit den IT-Talenten auf Augenhöhe zu kommunizieren.

Blick über den Tellerrand hinaus

Was müssen Logistikunternehmen tun, um in Zukunft dauerhaft gute Mitarbeiter zu bekommen und vor allem an sich zu binden?

Um den Kampf um die besten Talente zu gewinnen, müssen sich Logistikunternehmen auf moderne Methoden einlassen, ihre Attraktivität steigern und den Rekrutierungsprozess neu denken. Um möglichen Standortnachteilen entgegenzuwirken, kann es sich lohnen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen – zum Beispiel, indem der Pool potenzieller Fachkräfte von Anfang an vergrößert wird. Wenn man den geografischen Raum erweitert und nicht nur deutschlandweit, sondern europaweit sucht, kann man die Auswahl an Kandidat*innen drastisch vergrößern. 

Trotz aller Personalprobleme können Unternehmen Talente mit der richtigen Haltung gewinnen und langfristig binden. Ein wichtiger erster Schritt ist es, die eigenen Unternehmenswerte neu zu bewerten und anzupassen. Unternehmenswerte, Mission und Kultur müssen nicht nur innerhalb des Unternehmens gelebt, sondern auch aktiv nach außen kommuniziert werden. Employer Branding und die Kompatibilität zwischen Mitarbeiter*innen und Unternehmen waren noch nie so wichtig wie heute – sie entscheiden nicht nur darüber, ob sich Mitarbeiter*innen für das Unternehmen interessieren, sondern auch, wie lange sie bleiben werden. 89 % der passiv Suchenden und 84 % der aktiv Suchenden achten explizit auf die Arbeitgebermarke. Je attraktiver ein Unternehmen für seine Mitarbeiter*innen ist und je stärker sie sich mit dem Unternehmen identifizieren, desto geringer ist das Risiko einer Kündigung.

Zudem sollten Arbeitgeber aktiv in Weiterbildungsmöglichkeiten investieren und den Mitarbeitenden Entwicklungs- und Aufstiegsperspektiven aufzeigen. Eine aktuelle McKinsey Studie zeigt, dass der Mangel an beruflicher Entwicklung und Beförderung einer der ausschlaggebenden Gründe für eine Kündigung ist. Wichtig ist auch, dass sich Unternehmen nicht nur um das körperliche und seelische Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter*innen kümmern, sondern ihnen aktiv zuhören und ihnen ermöglichen, Prozesse im Unternehmen mitzugestalten. 

Logistikunternehmen stehen grundsätzlich vor den gleichen großen Herausforderungen wie andere Unternehmen: Kampf um Talente, hohe Resignation, Quiet Quitting und Arbeitskräfteknappheit. Daher ist es wichtig, Bewerber*innen und Mitarbeiter*innen einen Mehrwert zu bieten, und zwar durch eine entsprechende Unternehmenspolitik, ein zeitgemäßes Employer Branding, attraktive Sozialleistungen und eine gezielte Personalentwicklung, die über einen großen Gehaltsscheck hinausgeht.

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Digitalisierung? Werden sich die Jobs in der Logistikbranche mit zunehmender Digitalisierung ändern und kann dies dem Fachkräftemangel entgegenwirken?

Natürlich ist die Digitalisierung einer der Haupttreiber bei der Suche nach neuen Talenten – sie ist aber gleichzeitig auch eine Lösung, um ebendiese zu finden. Um die Digitalisierung voranzutreiben, muss das Management Ressourcen für die digitale Transformation bereitstellen und ein klares Bekenntnis zum Wandel des Unternehmens abgeben. Vor allem kleinere Unternehmen der Logistikbranche tun sich schwer, die notwendige digitale Infrastruktur aufzubauen. Ein Grund für die mangelnde Innovationsbereitschaft sind zudem die traditionell geringen Margen der Branche, die Zukunftsinvestitionen erschweren. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass sich Investitionen in digitale Prozesse schnell auszahlen. Wir sind überzeugt, dass Logistikunternehmen, Beschäftigte und potenzielle Arbeitssuchende die digitale Transformation als Chance begreifen können. Denn sie bietet Arbeitnehmer*innen und Unternehmen neue Möglichkeiten, ihre Position auf dem Markt zu verändern. Nur Logistikunternehmen, die heute den technologischen Wandel aktiv gestalten, können sich strategische Erfolgsvorteile sichern. 

Dazu gilt es, vorhandene Daten zu bereinigen, die richtigen Schlüsse zur Verbesserung der Prozesse zu ziehen und die Voraussetzungen für eine engere Zusammenarbeit mit Wertschöpfungspartner*innen zu schaffen. Hierfür benötigen die Unternehmen neben finanziellen Ressourcen vor allem qualifiziertes Personal. Unternehmen sollten dies als Chance begreifen, ihre Mitarbeiter*innen für die neuen Herausforderungen der Zukunft zu qualifizieren, eine bessere Work-Life-Balance zu ermöglichen und die – im wahrsten Sinne des Wortes – schwere Last, die Logistikmitarbeiter*innen jahrzehntelang tragen mussten, zu erleichtern.


Alexander Schlomberg-van DorenÜber Alexander Schlomberg-van DorenAlexander Schlomberg-van Doren ist Mitgründer und Managing Director des HR Tech Unternehmens Expertlead. Nach seinem Studium in BWL und VWL war er zunächst bei McKinsey als Unternehmensberater tätig, wo er in erster Linie an Projekten zur digitalen Transformation arbeitete. Durch seine Erfahrung als Berater weiß er um die Herausforderung für Unternehmen, geprüfte IT-Expert*innen zu finden. Expertlead unterstützt Kunden beim Finden, Evaluieren und Einstellen von Tech-Freelancer*innen, wie auch IT Expert*innen in Festanstellung. Neben dem Einsatz innovativer Recruiting-Software, setzt das Unternehmen dabei auf die Expertise der eigenen IT-Community, um die Qualifizierung von IT-Fachkräften anhand technischer Interviews remote zu prüfen. Die Durchführung technischer Interviews bietet das Unternehmen auch als separate Dienstleistung an.

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Geschrieben von Corinna Flemming